Ein ausführliches Beispiel:

Nachsorge für Einsatzkräfte bei ICE-Ünglück in Eschede 

von Jutta Helmerichs, Jürgen Bengel, Kay Leonhardt, Matthias Stalmann, Regina Zingiser (aus: Trauma- Opfer oder Helden. Hrsg. Knud Eike Buchmann und Max Hermanutz. Tagungsband Nr. 27 der Fachhochschule Villingen Schwenningen, Hochschule der Polizei 
 
Am Mittwoch, den 3. Juni 1998 um 10.59 Uhr entgleiste der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" auf dem Weg von München nach Hamburg bei einer Geschwindigkeit von 200 km/h in Höhe der niedersächsischen Ortschaft Eschede. Bei diesem schwersten Eisenbahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland starben 101 Menschen, 108 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Die Bergungs- und Aufräumarbeiten nahmen mehrere Tage in Anspruch. Eingesetzt waren dabei Kräfte des Deutschen Roten Kreuzes, des Malteser Hilfsdienstes, der Johanniter Unfall Hilfe, des Arbeiter Samariter Bundes, privater Rettungsdienste, der Feuerwehren, des Technischen Hilfswerkes, der Polizei, der Bundeswehr, der regional stationierten englischen Armee und des Bundesgrenzschutzes. Viele der insgesamt etwa 2000 Helferinnen und Helfer waren ehrenamtlich tätig. 
 
Ein großer Teil dieser beim Zugunglück in Eschede eingesetzten Helferinnen und Helfer hat nach Einsatzende eine psychosoziale Betreuung in Anspruch genommen. Geschulte Kräfte verschiedener Disziplinen und Fachrichtungen (Seelsorge, Psychologie, Medizin, Feuerwehr, Rettungsdienst, Sozialarbeit) boten und bieten zur Prävention psychischer und sozialer Belastungsfolgen und posttraumatischer Belastungsstörungen Hilfe und Unterstützung durch Vorortpräsenz, entlastende Einzelgespräche, Gespräche in Gruppen, strukturierte Einsatznachbesprechungen (debriefing) und psychotherapeutischer Behandlungen von Traumafolgen an. Erstmals nach einem Großschadensereignis wurde ein nicht nur umfangreiches, sondern auch sehr vielfältiges und dauerhaftes (eineinhalbjähriges) Unterstützungsangebot für Einsatzkräfte etabliert. 
 
Im folgenden wird die Entwicklung der Einsatznachsorge beim Zugunglück in Eschede von der Initiative Einzelner über die Bildung erster Organisationsstrukturen zur Konzeption und Umsetzung eines längerfristigen Projektes beschrieben. Dann wird eine Zwischenbilanz formuliert, aus der sich einige Schlußfolgerungen und Empfehlungen ableiten lassen. 
 
Aufbau der Eschede-Einsatznachsorge 
 
Beteiligte Organisationen und Institutionen 
 
Die Nachricht vom Zugunglück in Eschede veranlaßte verschiedene Organisationen und Institutionen in ganz Deutschland, Personen für die psychologische Unterstützung und Betreuung der Einsatzkräfte an den Unglücksort zu entsenden. Die meisten der "Helfer der Helfer" sind Einsatzkräfte aus Rettungsdienst und Feuerwehr mit psychologischer Zusatzqualifikation. An der Einsatznachsorge der ersten Tage nach der Zugentgleisung und damit am Aufbau einer Nachsorgestruktur waren beteiligt: 

  • Deutsches Rotes Kreuz / DRK Rettungsschule Niedersachsen, 
  • Malteser Hilfsdienst - CISD-Team, 
  • Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SbE) e.V.,
  • EinsatzNachsorgeTeam" (ENT) der Berliner Feuerwehr, 
  • Universität Freiburg - Psychologisches Institut und Klinikum, 
  • Bundesgrenzschutz und Bundeswehr, 
  • Sozialwissenschaftlicher Dienste (SWD) der Polizei Niedersachsen.


Erste organisatorische Maßnahmen 

Das erste Ziel war die Einrichtung der Koordinierungsstelle Einsatznachsorge mit einer Hotline "Celle 7070". Durch die Vielzahl der psychologischen Helfer/innen, die vor Ort eintrafen, wußten die einzelnen zum Teil nur wenig über die jeweilige Arbeit der anderen. Es galt deshalb, Kontakt aufzunehmen, zum einen untereinander, vor allem aber zu Geistlichen aus den regionalen Kirchenkreisen, von denen viele sofort zur Unfallstelle gefahren waren und dort vor allem Verletzte und Hinterbliebene betreuten. Ferner gab es vor Ort Kontakt mit den Psycholog/inn/en der Deutschen Bahn AG, zu Vertreter/inne/n der Kirchen und örtlicher Beratungseinrichtungen, zu Einsatzleitern, zu Verantwortlichen des Landkreises Celle, der Stadt Celle und der Gemeinde Eschede. Die Kooperation und Kommunikation verlief sehr positiv und kooperativ, so daß sich innerhalb weniger Tage eine tragfähige örtliche Vernetzung entwickelt hatte. 
 
Der organisatorische Rahmen für die Einsatznachsorge Eschede konnte innerhalb kürzester Zeit geschaffen werden: Kreisverbände des Deutschen Roten Kreuzes stellten Räume, Verpflegung und Kommunikationsmittel zur Verfügung. Wesentliche Aufgabe der Koordinierungsstelle Einsatznachsorge war zunächst die Öffentlichkeitsarbeit und die Bekanntgabe des Angebots der Einsatznachsorge an die Einsatzkräfte und die Einsatzleiter durch Telefonate und Informationsveranstaltungen. Parallel zum Aufbau der Koordinierungsstelle Einsatznachsorge wurde in der zweiten Woche nach dem Zugunglück ein Antrag auf Einrichtung einer mittel- und langfristig arbeitenden Nachsorgeeinrichtung formuliert und beim Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales eingereicht. 
 
Psychosoziale Hilfeleistungen der ersten zwei Wochen 
 
Die psychosozialen Hilfeleistungen der ersten zwei Wochen bestand überwiegend in Einsatznachbesprechungen in Gruppen (debriefing) außerhalb der Unfallstelle und in Einzelberatungen. 

  • Einsatznachbesprechungen in Gruppen (debriefing) Die meisten (83 %) der vom Malteser Hilfsdienst, der Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen e.V., der Berliner Feuerwehr, der Bundeswehr, des Deutschen Roten Kreuzes, der Universität Freiburg und der Polizei Niedersachsen für die Einsatznachsorge nach Eschede entsandten (und über die Koordinierungsstelle eingesetzten) Kräfte (insgesamt 73) sind im "Critical Incident Stress Management"-Programm (CISM) nach Mitchell und Everly, USA ausgebildet.1 Die Eschede-Einsatznachsorge bestand dadurch zunächst vorwiegend aus strukturierten Einsatznachbesprechungen in Gruppen (überwiegend 5 - 10 Personen) auf der Grundlage dieses Modells. Auch für die organisationsinterne Einsatznachsorge des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr standen entsprechend ausgebildete Debriefingteams zur Verfügung. 
  • Einzelberatungen und Vermittlung weiterführender Hilfe Parallel zu den Einsatznachbesprechungen in Gruppen wurden den Einsatzkräften von den Mitarbeiter/inne/n der Koordinierungsstelle Einzelgespräche angeboten (ca. 50 Gespräche an der Unfallstelle, 27 Gespräche außerhalb). Die Kontaktaufnahme erfolgte sowohl telefonisch über die Hotline "Celle 7070" als auch durch persönliche Hinweise und Empfehlungen. Einige Einsatzkräfte nahmen im Anschluß an ein Debriefing Kontakt zur Koordinierungsstelle auf, weiterhin wurde die Kontaktaufnahme zu den regionalen Beratungseinrichtungen, niedergelassenen Ärzt/inn/en oder Psycholog/inn/en oder zu Ambulanzen nahegelegender Psychiatrischen Kliniken empfohlen. Als problematisch erwies sich dabei, daß der Koordinierungsstelle zwar zahlreiche Ansprechpartner/innen namentlich genannt worden waren, deren therapeutische Ausrichtung bzw. Qualifikation vielfach jedoch nicht bekannt war. 
  • Zusammenstellung und Systematisierung von Hilfsangeboten Die Koordinierungsstelle erhielt unmittelbar nach dem Zugunglück aus dem gesamten Bundesgebiet Therapiehinweise und Hilfsangebote von Beratungseinrichtungen, Kliniken, Hochschulen sowie niedergelassenen Ärzt/inn/en und Psycholog/inn/en. Zeitgleich boten Privatpersonen, Kurverwaltungen und Hotels der Koordinierungsstelle zahlreiche Erholungsreisen für Einsatzkräfte an mit der Bitte um Weiterleitung bzw. Organisation


Langfristige Einsatznachsorge 
 
Bereits in den ersten Tagen nach dem Zugunglück wurde eine Konzeption für eine mittel- und längerfristige Nachbetreuung von Einsatzkräften und anderen Betroffenen entwickelt, das auch als Modell für die Entwicklung von Konzepten für Katastrophenschutzpläne dienen soll. Vor allem aus folgenden vier Gründen wurde ein solches Einsatznachsorgeprogramm für erforderlich gehalten: 

  • die bereits zum Zeitpunkt der Konzeption zunehmende Anfrage nach Einzel- und Gruppengesprächen, 
  • die Sicherstellung der Weiterbetreuung von Personen, die bereits in der Koordinierungsstelle Einsatznachsorge beraten wurden, 
  • ein aus psychotraumatologischer Sicht zu erwartender Versorgungsbedarf in den folgenden Wochen und Monaten, 
  • die nationalen und internationalen Erfahrungen bei Großschadensereignissen und die Tatsache, daß man beim Zugunglück Eschede nicht - wie in einigen europäischen Ländern - auf speziell für den Katastrophenfall vorbereitete Organisationsstrukturen der Einsatznachsorge zurückgreifen konnte.

 
Der Antrag auf Einrichtung einer längerfristigen Einsatznachsorgestelle wurde vom Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales bewilligt. Das von Bund und Land Niedersachsen finanzierte (350 TDM), zunächst bis Mitte 1999 konzipierte, dann mit Unterstützung durch die Deutsche Bahn AG (150 TDM) bis Ende 1999 verlängerte Projekt hat folgende Aufgaben: Regionale Nachsorge der Einsatzkräfte durch Betreuungsarbeit und Vernetzung der Versorgungsangebote, Information und Öffentlichkeitsarbeit sowie Auswertung und Dokumentation der gewonnenen Erfahrungen. 
 
Beratungsarbeit und Aufbau eines Betreuungsnetzes 
 
Zu den Aufgaben der Koordinierungsstelle gehört nach wie vor die telefonische oder persönliche Einzel- oder Paarberatung sowie die Vermittlung weiterführender Hilfe. Diese Hilfe wird auf den Einzelfall abgestimmt und Kontakte zu niedergelassenen Ärzt-inn/en, Psycholog/inn/en oder Kliniken, zu Gemeindepastor/inn/en, Beratungs-einrichtungen, Kriseninterventionsteams oder Notfallseelsorgediensten vermittelt. Langfristiges Ziel ist es, in allen Regionen Norddeutschlands, aus denen die Einsatzkräfte nach Eschede angefordert worden sind, ein unterstützendes Netzwerk zu bilden, damit die Einsatzkräfte Kontakt zu kompetenten Ansprechpartner/inne/n aus dem psychosozialen und medizinischen Versorgungsbereich aufnehmen. Daneben wurden in verschiedenen Orten Gesprächskreise für Familienangehörige (Ehe-/Partnerinnen, Eltern) der Einsatzkräfte gebildet, die in Kooperation mit den Gemeindepastor/inn/en angeboten werden. Um die Förderung der regionalen Nachsorge mit Einsatzkräften und Beratenden gemeinsam entwickeln und abstimmen zu können, wurde ein Fachgruppe "Regionale Nachsorge" gebildet, die sich in regelmäßigen Abständen trifft. 

Öffentlichkeitsarbeit 
 
Durch Informationsgespräche oder -veranstaltungen für die Einsatzkräfte von Eschede, für Führungskräfte (Einsatzleiter, Bereitschaftsführer/inn/en, Ortsbeauftragte, Wehrführer/innen usw.) der in Eschede eingesetzten Helfergruppierungen und für Entscheidungsträger/inn/en aus dem politischen Bereich sowie über die regionale Presse oder Fachzeitschriften wird über Ziele und Angebote der Koordinierungsstelle, über psychosoziale Auswirkungen besonders belastender Einsätze und über Methoden der Einsatznachsorge informiert. Zur Öffentlichkeitsarbeit der Koordinierungsstelle gehört weiterhin die Präsentation der Arbeit und erster Arbeitsergebnisse in Vorträgen und Publikationen. 
 
Auswertung gewonnener Erfahrungen 

Im Rahmen der Einsatznachsorge Eschede gewonnene Erfahrungen und Erkenntnisse werden dokumentiert, ausgewertet und der Fachöffentlichkeit (Experten aus dem psychosozialen und medizinischen Bereich sowie Führungskräften aus dem Bereich Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben) zur Verfügung gestellt.2 Vorschläge zur Einrichtung einer Koordinierungsstelle psychosoziale Dienste im Katastrophen-/Großschadensfall werden erarbeitet. Die Auswertung der Erfahrungen und Erkenntnisse erfolgt durch: 

  • regional und überregional zusammengestellte Fachgruppen, die sich aus Vertreter/inne/n der Organisationen und Institutionen zusammensetzten, die am Aufbau der Einsatznachsorge Eschede beteiligt waren, 
  • einen Workshop für diejenigen, die in den ersten zwei Wochen nach dem Zugunglück bei der Koordinierungsstelle Einsatznachsorge mitgearbeitet haben, 
  • eine Erhebung bei den Einsatzkräften, mit dem Ziel die langfristige psychische Belastung und Belastungsfolgen zu untersuchen, die psychische Einsatzverarbeitung zu beschreiben und das Nachsorgeangebot durch die Helfer/innen bewerten zu lassen. Die Einsatzkräfte können die Ergebnisse individuell und anonym über das Psychologische Institut der Universität Freiburg erfahren.


Bilanz und Schlußfolgerungen 

Projektaufbau und Organisation  

Organisationsübergreifende Kooperation 
 
Die Koordinierungsstelle Einsatznachsorge wurde innerhalb kürzester Zeit aufgebaut. Die wesentlichen Gründe für das Gelingen liegen in der guten Zusammenarbeit aller Beteiligten unter Zurückstellung persönlicher Interessen, der Bereitschaft organisationsübergreifend zu denken und zu handeln, im hohen persönlichen Einsatz Einzelner und in der guten Kooperation mit Vertreter/inne/n der Kirchen und örtlicher Beratungseinrichtungen. Die lokale Vernetzung und organisationsübergreifende Zusammenarbeit ließ sich durch die gemeinsame Arbeit in der gebildeten regionalen und überregionalen Fachgruppe fortsetzen. Diese beim Zugunglück in Eschede gewonnenen positiven Erfahrungen sind nicht zwangsläufig auf andere Großschadensereignisse übertragbar. Erforderlich ist die gezielte Entwicklung von Organisationsstrukturen für Einsatznachsorge, wobei eine Einbindung der Nachsorge in bestehende Strukturen auf zwei Ebenen zu empfehlen ist, zum einen im Katastrophenschutz/für den Großschadensfall und zum anderen im Einsatzalltag. Eine verläßlich etablierte Einsatznachsorge im Einsatzalltag ist wesentliche Grundlage für wirksame und problemlos koordinierbare Einsatznachsorge im Katastrophen-/Großschadensfall. Die Erfahrung der konstruktiven organisationsübergreifenden Zusammenarbeit sowohl in der kurz- als auch in der langfristigen Eschede-Einsatznachsorge legt nahe, auch zukünftig im Aufgabenbereich Einsatznachsorge organisationsübergreifend zu denken, zu handeln und entsprechende Netzwerke zu fördern. 

  • Kompatibilität 
    Alle 62 Personen, die in den ersten 18 Tagen der Eschede-Einsatznachsorge Nachbesprechungen in Gruppen (debriefing) durchgeführt haben, konnten - obwohl sie aus verschiedenen Organisationen kamen - je nach Bedarf zu unterschiedlichen Teams variabel zusammengestellt werden und ad hoc zusammenarbeiten, denn sie waren nach einer einheitlichen Methode ausgebildet (CISM1). Diese Kompatibilität der eingesetzten Teammitglieder erwies sich für die Koordination der Katastrophennachsorge als sehr vorteilhaft. Zu empfehlen ist, daß alle Organisationen und Gruppierungen, die Nachsorge für Einsatzkräfte vorhalten und anbieten, sich auch langfristig auf eine einheitliche Methode verständigen, zumindest in Vorbereitung für den Katastrophen-/Großschadensfall, der die rasche Betreuung einer höheren Anzahl von Einsatzkräften erwarten läßt. 
  • Sensibilisierung 
    Aus- und Fortbildung in Einsatznachsorge Unter den Einsatzkräften von Eschede - aber auch bei anderen - ist seit dem Zugunglück ein wachsendes Interesse an Aus- und Fortbildung in Einsatznachsorge spürbar. Zunehmend wird die Frage aufgeworfen, wie Streßreaktionen vermindert werden können, aber auch, welche präventiven Maßnahmen sich vor einem möglicherweise traumatisierenden Einsatz anbieten. Sinnvoll und erforderlich ist eine stärkere Integration von psychosozialen Themen in die Aus- und Fortbildung von Einsatzkräften. Darüberhinaus sollten alle Rettungs- und Hilfsorganisationen psychosozialen Themen insgesamt deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Psychologische Einsatzvorbereitung und -nachsorge ist hier bisher nicht nur zu wenig eingebunden, sondern auch zu wenig bekannt. In Eschede mußte vielen Einsatzleitern und Einsatzkräften die Hilfsleistungen zunächst ausführlich erläutert werden, bevor sie in Anspruch genommen werden konnte. 
  • Impulse zum Aufbau psychosozialer und seelsorgerischer Dienste Eine weitere Folge des Zugunglücks, den damit verbundenen hochbelastenden Aufgaben und der kontinuierlichen Präsentation der geleisteten Seelsorge und Einsatznachsorge in den Medien ist ein bundesweit wachsendes Interesse am Aufbau weiterer Kriseninterventionsteams und Notfallseelsorgediensten. Wenngleich regional gesehen unterschiedliche Anforderungen an die einzelnen Dienste zu stellen sind, wäre dennoch ein stärkerer Austausch von konzeptionellen Überlegungen und gewonnenen Erfahrungen der einzelnen Initiativen untereinander wünschenswert, als es bisher der Fall ist, um Synergieffekte sinnvoll zu nutzen. Qualitätsicherung und Forschung Eng verknüpft mit der Forderung nach einer verstärkten Aus- und Weiterbildung in Einsatzvorbereitung und -nachsorge und nach Vernetzung der verschiedenen Kriseninterventions- und Notfallseelsorgeteams ist die Forderung nach Qualitätssicherung und verstärkter Forschung in diesem Bereich. Gerade aufgrund der zunehmenden Akzeptanz und Einsicht in die Bedeutung psychosozialer Betreuung besteht die Gefahr des Aktionismus bei fehlender wissenschaftlicher Grundlage: Zwar läßt sich zur Zeit schon auf wissenschaftliche Ergebnisse zur Notfallpsychologie zurückgreifen, dennoch liegen insgesamt zu wenig gesicherte Erkenntnisse über den kurz- und langfristigen Bedarf von psychologischer Nachsorge nach belastenden Einsätzen vor. Auch über die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen ist zu wenig bekannt. So sind auch Indikation, Wirkungsweise und Effizienz der Debriefings noch nicht ausreichend untersucht. Die Forschung im Bereich Notfallpsychologie ist zu verstärken und die Qualität psychologischer und seelsorgerischer Hilfsangebote und Präventions- und Nachsorgekonzepte ist zu untersuchen und zu evaluieren. 
  • Akzeptanz Wenngleich seit einigen Jahren unter Einsatzkräften und Einsatzleitern eine zunehmende Akzeptanz psychosozialer Themen und Angebote zu verzeichnen ist, inzwischen zahlreiche Ausbildungskonzepte und Fortbildungsprogramme in Streßbewältigung und Krisenintervention entwickelt, publiziert und umgesetzt wurden3 und im gesamten Bundesgebiet die Zahl der Kriseninterventionsteams und Notfallseelsorge/-nachsorgedienste kontinuierlich ansteigt, bedeutet diese Entwicklung nicht, daß alle diesbezüglichen Vorbehalte mittlerweile ausgeräumt sind. Hilfe zur Verarbeitung eines belastenden Einsatzes in Anspruch zu nehmen, ist für Helferinnen und Helfer nach wie vor nicht selbstverständlich und die Eschede-Einsatzkräfte haben nur einen ausgewählten Teil der vielfältigen Unterstützungsangebote akzeptiert, ein Teil hingegen wurde skeptisch beurteilt oder abgelehnt. 
  • Debriefing Zu den breit akzeptierten Hilfeleistungen gehört das Debriefing, obwohl dieses Nachsorgemethode unter den Einsatzkräften und Einsatzleitern beim Zugunglück in Eschede bis dahin nicht bekannt war. Der Betreuungsumfang der Koordinierungsstelle Einsatznachsorge betrug nach Abschluß der 32 durchgeführten Debriefings am 21.6.1998 insgesamt 364 Personen. Bundesgrenzschutz und Bundeswehr haben nach eigenen Angaben zusätzlich bei ca. 350 ihrer Kräfte ein Debriefing durchgeführt. Geht man davon aus, daß etwa 2000 Kräfte in Eschede im Einsatz waren (die genaue Zahl ist nicht rekonstruierbar), hat etwa jeder Dritte eine Erstbetreuung dieser Art angenommen. Aus Rückmeldungen ist zu schließen, daß das Debriefing vor allem deshalb angenommen werden konnte, weil bei jeder dieser Einsatznachbesprechungen grundsätzlich speziell geschulte Kollegen oder Kameraden ("Peers") eingesetzt waren. Die Einsatzkräfte brauchten sich und ihre Arbeit nicht zu erklären, es konnte sehr schnell eine Vertrauensbasis entstehen, Vorbehalte gegenüber psychologischen Betreuungsangeboten ließen sich so überbrücken. Aus dieser Erfahrung ist abzuleiten, daß das Prinzip "Psychologische Kollegenhilfe" in Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst und Bundeswehr (Konzept "Peer", "Mediatoren" u.a.4) auszubauen und zu fördern ist. 
  • Information und Aufklärung 
    Breit akzeptiert wurden auch die Informationsveranstaltungen für Eschede-Einsatzkräfte, die die Koordinierungsstelle im Zeitraum September 1998 bis Mai 1999 kontinuierlich anbot. Insgesamt nahmen 488 Einsatzkräfte und Einsatzleiter an einer dieser Veranstaltungen, die in der Regel im Rahmen von Dienst- bzw. Bereitschaftsabenden stattfanden, teil. Die meisten Helferinnen und Helfer hatten kaum Informationen über zu erwartende Folgen hochbelastender Einsätze wie über typische Belastungsreaktionen und zeitversetzte Reaktionen oder über Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung für sich und ihre Familien. Information und Aufklärung dienten der Orientierung und Entlastung. Abzuleiten ist, daß gezielter Information und Aufklärung über psychologische Themen und Fragen innerhalb der Feuerwehr, des Rettungsdienstes und der Polizei ein höherer Stellenwert eingeräumt werden sollte. 
  • Aktive Beratungsgestaltung und niederschwellige Gesprächsangebote 
    Die Informationsveranstaltungen der Koordinierungsstelle trugen außerdem dazu bei, Vorbehalte gegenüber psychosozialen Hilfsangeboten abzubauen. Etwa die Hälfte der insgesamt 130 Personen, die im Zeitraum Juni 1998 bis Juni 1999 innerhalb der Koordinierungsstelle eine Einzelberatung nachfragten, hatte zuvor an einer Informationsveranstaltung teilgenommen und die Arbeit und Beratenden der Koordinierungsstelle kennengelernt. Auf der Basis dieser "nachgehenden Betreuung" und niederschwelligen Gesprächsangebote durch die Koordinierungsstelle war zumeist bei Bedarf auch eine Vermittlung weiterführender Hilfe zu Traumaexperten möglich. Die Erfahrung innerhalb der Eschede-Einsatznachsorge hat gezeigt, daß es nicht ausreicht, ein Angebot psychologischer Unterstützung (durch Aushang, Angabe von Telefonnummern, Adressen u.a.) bei Einsatzkräften und Einsatzleitern nur bekanntzugeben. Aus diesen Erfahrungen läßt sich ableiten, daß der Ausbau eines Netzes niederschwelliger Gesprächsangebote (z.B. "Mediatoren" und psychosoziale Fachleute mit regelmäßigem informellen Kontakt zu Einsatzgruppen) auch für den Einsatzalltag sinnvoll ist. 
  • Auszeichnungen.Die in den Tagen und Wochen nach dem Zugunglück den Eschede-Einsatzkräfte angebotenen und überreichten Auszeichungen für ihren Einsatz wie Dankschreiben von Politikern und Führungskräften, Einladungen von Privatpersonen und Treffen und Empfänge in einigen Verbänden wurden gern angenommen. Nicht selten erwiesen sich diese Würdigungen ihrer Leistungen als wichtiger Bestandteil der Belastungsverarbeitung. Es empfiehlt sich, Lob und Würdigung geleisteter Arbeit in Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr auch zukünftig einen hohen Stellenwert einzuräumen. 
  • Zusammentreffen der Einsatzgruppen Sowohl in den Informationsveranstaltungen für Einsatzgruppen, als auch in Einzelgesprächen wurde deutlich, daß das regelmäßige Zusammentreffen mit der Gruppe, in der die Einsatzkräfte an der Unglückstelle eingesetzt waren, für ihre Verarbeitung eine hohe Bedeutung zukommt (Effekt: Selbsthilfegruppen). Einsatzkräfte, die ohne Gruppenbezug beim Zugunglück in Eschede eingesetzt waren, berichten häufig, diese Form der sozialen Unterstützung bei der Einsatzverarbeitung sehr zu vermissen. Abzuleiten ist, daß ein wichtiger Beitrag von Einsatznachsorge in der Förderung des Zusammentreffens der Einsatzgruppen liegt. 
  • Gesprächskreise für Familienangehörige Zu den akzeptierten Angeboten der Koordinierungsstelle gehören weiterhin die sehr früh (2 - 3 Wochen nach dem Zugunglück) eingerichteten Gesprächskreise für Familienangehörige der Einsatzkräfte. Im Vordergrund stand die eigene Belastungsbewältigung der teilnehmenden Partnerinnen und Eltern der Einsatzkräfte und die Frage nach Orientierung im (evtl. zu erwartendem) veränderten Verhalten der Partner und Kinder. Auch zukünftig sollte die Einbindung und Förderung sozialer Ressourcen wesentlicher Bestandteil von Nachsorgeangeboten nach belastenden Einsätzen sein. 
  • Ablehnung und Skepsis
    Aktive Gesprächsangebote über Einsatzbelastung während der Rettungs- und Bergungsarbeiten Einige Einsatzkräfte sind an der Unfallstelle selbst, also während der Rettungs- und Bergungsarbeiten, von Beratenden auf ihre Belastungen angesprochen worden. Sie haben auf diese Hilfsangebote sehr ablehnend reagiert. Beratenden ist deshalb zu empfehlen, an einer Unfallstelle lediglich zurückhaltende Präsenz zu zeigen und aktive Nachsorge nur außerhalb der Unfallstelle zu betreiben. 
  • Fachleute ohne Einsatzerfahrung Weiterhin wurden Hilfsangebote von psychosozialen Fachleuten ohne Einsatzkenntnis oder Vorstellung vom Einsatzalltag von den meisten Einsatzkräften eher skeptisch beurteilt und selten in Anspruch genommen. Der Kontaktaufnahme zu niedergelassenen Traumaexperten oder Fachkliniken gingen in der Regel vermittelnde Gespräche mit Personen mit Einsatzkenntnis voraus (psychologisch geschulte Kolleg/inn/en oder Vorgesetzte, Koordinierungsstelle, erfahrene Gemeindeseel-sorger/innen). Die Durchführung psychosozialer Einsatzvorbereitung und -nachsorge sollte ausschließlich in den Händen von Personen mit entsprechender Qualifikation und Einsatzkenntnis bzw. Feldkompetenz liegen. 
  • Medieninteresse Das Zugunglück in Eschede hat sehr stark die Aufmerksamkeit der Medien hervorgerufen. Die Angebote zur Einsatznachsorge wurde dabei von Anfang an der Öffentlichkeit positiv vorgestellt (Slogan: "Hilfe für Helfer"). Es ist anzunehmen, daß diese positive Berichterstattung, zusammen mit der Institutionalisierung der Einsatznachsorge als ein mit öffentlichen Mitteln finanziertes Projekt, wesentlich zur Akzeptanz der Eschede-Einsatznachsorge beitrug. Von den Einsatzkräften wurde das große Interesse der Medien ambivalent aufgenommen. Es wurde vielfach zu einer Belastung, bot ihnen aber gleichzeitig die Möglichkeit, von sich, ihren Erlebnissen und Eindrücken immer wieder zu erzählen und wurde damit auch zu eine Form der Verarbeitung. Abzuleiten ist, daß dem Thema Pressearbeit und der Vorbereitung auf Medienkontakte in Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muß.
    Konzeptionelle Ausrichtung der Eschede-Einsatznachsorge 
    Die insgesamt 18 Monate umgesetzte Eschede-Einsatznachsorge folgt auf der Grundlage von Konzeptenwicklung und gewonnener Erfahrung folgenden Prinzipien:
  1. Bereithalten niederschwelliger Angebote 
  2. Nachgehende Betreuung 
  3. Rückgriff auf "Psychologische Kollegenhilfe" 
  4. Einbindung und Förderung sozialer Ressourcen 
  5. Förderung von Zusammentreffen der Einsatzgruppen 
  6. Information und Aufklärung zu Einsatzbelastungen und Bewältigung 
  7. Übernahme von "Brückenfunktion" zu Traumaexperten.
     

Anmerkungen 

  1. Das CISM-Programm ist beschrieben in: Mitchell JT, Everly GS (1998). Streßbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Ein Handbuch zur Prävention psychischer Traumatisierungen in Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei. (Deutsche Ausgabe hg v A Igl, J Müller-Lange). Edewecht, Wien: Stumpf & Kossendey 
  2. Eine Zwischenbilanz findet sich in: Helmerichs J (1999) Einsatznachsorge. Die ICE-Katastrophe von Eschede. Er fahrungen und Lehren - eine interdisziplinäre Analyse, hrsg v E Hüls und H-J Oestern, Berlin: Springer: 119 - 124 und Helmerichs J, Bengel J, Leonhardt K (1999) Einsatznachsorge beim ICE-Unglück in Eschede. Notfall und Rettungsmedizin 6: 362 - 366. 
  3. Bengel J (Hg) (1997) Psychologie in Notfallmedizin und Rettungsdienst. Berlin Springer Bengel J, Strittmatter R, Belz-Merk M (1998) Psychologische Aus- und Fortbildung in Notfallmedizin und Rettungsdienst. Notfall & Rettungsmedizin1: 40-45. Lasogga F, Gasch B (1997) Psychische Erste Hilfe bei Unfällen. Edewecht: Stumpf & Kossendey 
  4. Lovenfosse R, Falk B (1997) Mediatorenmodell im Rettungsdienst. Psychologie in Notfallmedizin und Rettungsdienst, hrsg v J Bengel, Berlin, Springer: 375 - 385.